Einführung von Ella Falldorf
Auf der Suche nach den Werten
der Aufklärung im „Abendland“
Was ist dieses „Abendland“, wieso löst es seit über 100 Jahren so heftige Debatten aus und warum gilt es von jeher als umkämpft und bedroht? Bereits 1918 beschwor Oswald Spengler den „Untergang des Abendlands“ und Joseph Goebbels hob dies 1943 in seiner berühmten Sportpalastrede als weiteres Argument für den totalen Krieg hervor: „Die europäischen Mächte stehen hier vor ihrer entscheidenden Lebensfrage. Das Abendland ist in Gefahr.“ Der Aufruf zu seiner Verteidigung scheint fest in der Tradition der Abendland-Rhetorik verankert zu sein. So griff die CDU den Begriff in den 1950er Jahren im Kontext des Kalten Krieges wieder auf und nach der Jahrtausendwende entdeckten Rechtspopulisten wie Thilo Sarrazin, Jürgen Elsässer und nicht zuletzt die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands (kurz: PEGIDA) seine Anziehungskraft. Zu propagandistischen Zwecken wird der Begriff besonders in Abgrenzung zu allem „Fremden“ und vermeintlich „anderem“ verwendet. Gegen diese Bedrohung von außen sollen die „westlichen Werte“ verteidigt werden. In dem vorliegenden Magazin- und Kunstprojekt geht es Sebastian Jung nicht darum, den Abendland-Begriff zu rehabilitieren oder sich an Vorstellungen des „anderen“ abzuarbeiten. Stattdessen fragt er nach den jüdisch-christlichen Fundamenten der abendländischen Tradition, also danach, worauf sich seine lautstarken Verteidiger*innen oftmals berufen. Ein Bezugspunkt, der als einziger noch heute emanzipatorisches Potenzial zu bergen scheint, ist die Aufklärung. Doch die mit ihr verbundenen Werte von Freiheit und Gleichheit bilden einen unüberbrückbaren Widerspruch zu den Inhalten, die von PEGIDA & Co proklamiert werden. Der Untertitel des Magazins – „Magazin für ständige Aufklärung“ – fordert eine Besinnung auf genau diesen Aspekt, der auch den methodischen Ausgangspunkt von Jungs Arbeit bildet.
„Think-Tank“
Allein diese Überlegungen zeigen: Jungs Kunstverständnis ist von vornherein politisch und das gesamte Magazin ist daher nicht nur als künstlerische, sondern auch als politische Geste zu verstehen. In diesem Sinne besteht das erste Kapitel des Magazins aus einem Think-Tank, in dem einflussreiche Akteur*innen aus Kunst und Kultur zusammengeführt werden. In kurzen Kommentaren beziehen sie Position zur heutigen Kunstszene und loten aus ihrer Perspektive das Verhältnis von Kunst und Politik aus. Jung kreiert hier einen Dialog, ohne dass die Einzelpersonen die Beiträge ihrer Gegenüber kennen. Der Künstler tritt damit als unsichtbarer Moderator auf, der allen Beitragenden jeweils auf sie zugeschnittene Fragen stellt. Daraus entsteht ein weites Spektrum an Positionen, Erfahrungen und Beobachtungen. Dieses Spektrum spitzt der Künstler in den folgenden Kapiteln nach und nach zu, indem er mit künstlerischen Mitteln immer tiefergehende Fragen stellt – über den heutigen Zustand der „abendländischen“ Zivilisation und die Mehrdeutigkeit der darin verhandelten Werte.
„Besorgte Bürger“
Im Herbst 2018 war Sebastian Jung auf den Großdemonstrationen im sächsischen Chemnitz. Am 30. August dokumentierte er dort vor Ort wie im Wahn mit dem für ihn so charakteristischen Zeichenstil seine Eindrücke. Beinah naiv wirken diese Bleistiftzeichnungen, die hier vollständig, einem Comicstrip ähnelnd, je zu viert auf einer Seite angeordnet sind. Anders als noch in seinem Projekt zu „Winzerla. Spurensuche im Schatten des NSU“ geht es hier nicht nur um den konkreten Ort, die Stadt Chemnitz oder die spezifische Situation im Spätsommer 2018, sondern um die bereits im Titel des Kapitels benannten „besorgten Bürger“. Jene Bürger*innen, die sich bedroht fühlen durch „Fremde“.
Sie werden zunächst als eine Masse mit weit aufgerissenen übergroßen Mündern gezeichnet – Münder, die teilweise die Grenzen der Gesichter überschreiten und entstellen. Sie stehen in Kontrast zu den Journalist*innen, deren Münder, dem Diktat der neutralen Berichterstattung entsprechend, mit einem schmalen horizontalen Strich geschlossen bleiben. Was die Demonstrierenden wollen, wird auf Schildern ausbuchstabiert: „Wende 2.0“, ein „Märchen“. Nach einem Blick auf die mit Helmen, Schildern und Westen geschützten, anonymisierten Polizist*innen, blickt Jung genauer auf die Demonstrierenden. So sind die letzten drei Seiten des Kapitels dominiert von Einzelporträts. Zuerst erinnern sie an Karikaturen, aber es geht dem Künstler nicht darum, die individuellen Charakterzüge der dargestellten Personen einzufangen, sondern ihren Ausdruck zu abstrahieren. Es handelt sich folglich um eine Sammlung von (Stereo-)Typen, die auf detaillierten Beobachtungen basieren und Absurditäten mit einem Augenzwinkern herausstellen, ohne sie jedoch platt zu diffamieren. Tiefe Augenringe und stark nach unten gezogene Mundwinkel deuten auf Erschöpfung hin, auf Unzufriedenheit. Ungewöhnliche Körperproportionen werden verzerrt und überzogen. Die Zeichnungen zeugen in ihrer Hastigkeit und Masse von der Unmittelbarkeit der Produktion. Das festgehaltene Ereignis selbst – die Demonstration – ist ein Moment, in dem sich geballte aufgestaute Emotionen ungefiltert entladen. Dieses Moment spiegelt sich in der formalen Gestaltung der Zeichnungen wider. In ihrer unvoreingenommenen Expressivität vermögen sie es, Chaos und Wut durch sich kreuzende und mit hartem Stift vehement aufs Papier gesetzte Linien zu vermitteln. Sebastian Jung kehrt das Innerste der Menschen, ihre Emotionen, nach außen und entwickelt so eine Art visuelle Massenpsychologie.
„Alte Meister, Neue Bilder“
Sebastian Jungs Arbeit ist eine Suche nach Ursprüngen. Nach der beinah dokumentarischen Skizzierung des Istzustands geht er zurück zu den „Alten Meistern“ – oder vielmehr ihren Werken in der Gemäldegalerie in Dresden, der Stadt, in der die rechten Protestwellen von PEGIDA ihren Ursprung haben.
Im Kapitel „Alte Meister, Neue Bilder“ geht es um die Konfrontation mit Archetypen, der abendländischen Bildgeschichte einerseits und der modernen Massenkultur andererseits. Jung stellt Zeichnungen von altmeisterlichen, heute fest im Bildgedächtnis verankerten Gemälden zeitgenössischen Stockfotografien gegenüber. Diese Fotos, die für Werbezwecke massenhaft produziert und über Lizenzen vertrieben werden, bilden mit strahlenden Primärfarben, ungebrochener Motivwelt und harmonischen Bildkompositionen einen starken Kontrast zu den Zeichnungen einerseits und den Gemälden ihrer Vorbilder andererseits. In diesen Gemälden geht es um den Sündenfall, Entführungen und Märtyrertum. Es sind die Ikonen der christlich-abendländischen Bildtradition. Die Originale sind voll spannungsgeladener Gewalt, nackter Haut und Blut. Die Verbindung zwischen diesen gegensätzlichen Bildern wird wiederum durch eine Frage hergestellt, die die Betrachtenden nicht nur direkt anspricht, sondern auch auf sich selbst zurückwirft: In all diesen Fragen geht es um die Beziehung des modernen Subjekts zu seinen Eltern sowie um Möglichkeiten, selbstbestimmt zu handeln.
So beginnt das Kapitel mit einer Gegenüberstellung von Jungs Interpretation des Sündenfalls (Adam und Eva neben dem Baum mit der Schlange) und einer Fotografie von einem älteren Paar in einer Küche – unter dem Foto die Frage: „Möchte ich etwas über meine Entstehung erfahren?“ Die Komposition erzeugt ein Unbehagen. Es wird ausgelöst durch die Vorstellung, mit den eigenen strahlenden Großeltern über Fortpflanzung zu sprechen, und durch den abstrahierenden Zeichenstil Jungs, der, ähnlich wie bei den Zeichnungen von Chemnitz, auch hier Gliedmaßen verzerrt und radikal überspitzt. Evas Körper ist dominiert von riesigen kreisrunden Brüsten, auf die Adam zu schielen scheint; Adam wiederum schiebt einen ausgeprägten Bierbauch nach vorn. Die keusch verhüllte Laszivität des Alten Testaments übersetzt Jung in pornografische Direktheit. Diese wird kontrastiert mit einem alten Paar, dessen Sexualität gesellschaftlich tabuisiert ist.
Die hier zitierten „Alten Meister“ bilden seit Jahrhunderten den Kompositionsmaßstab für die visuelle Kultur Europas. Deren ästhetisches Harmonieempfinden prägt selbst heute noch die Richtlinien der Stockfotografien. Doch was wurde aus der Bildwelt, die unsere Gesellschaft prägt? Wie konnte aus den vielschichtigen, spannungsgeladenen Komposi-
tionen der „Alten Meister“ diese glatt gebügelte Welt der Stockfotografie entstehen?
Die Frage nach dem Umgang mit der abendländischen Kultur ist auf individueller Ebene auch eine Frage nach der Emanzipation von den eigenen Eltern. In seinen Kompositionen parallelisiert Jung die Ablösung von den eigenen Eltern mit der Ablösung von Geschichte. Können wir uns jemals von unserer eigenen Herkunft befreien? Und wenn wir es könnten: Wären wir dadurch frei?
„Manifest“
In dem sich anschließenden Manifest entwirft Jung ein Zwiegespräch zwischen einem Künstler und seinem Alter Ego. Neben dem abgedruckten Text sehen die Betrachtenden ein Video-Still auf einem Handybildschirm: Eine Frau schaut mit stechendem Blick direkt in die Kamera. Ruft man die entsprechende Internetseite auf, findet sich ein Selfie-Video, in dem die Schauspielerin Ella Gaiser in neutraler, fast monotoner Stimme diesen hoch emotionalen Text über die inneren Konflikte eines Künstlers vorträgt. In diesem Zwiegespräch geht es um die Zerrissenheit der Kunstschaffenden in der heutigen Kunstwelt – um die immer wiederkehrenden Spannungen zwischen Konformität und Innovationszwang, zwischen externen und internen Erwartungen. Die Widersprüche, denen sie ausgesetzt sind, werden im Satz „Wir haben uns auf den Ast gesetzt, an dem wir sägen müssten“ auf den Punkt gebracht. Es geht um den Kunstbetrieb und die Unmöglichkeit, in ihm zu bestehen, es geht um das Unbehagen mit der eigenen Plattform.
Der letzte Teil des Manifests lässt sich als Metakommentar zu den bildnerischen Arbeiten Jungs lesen. Dadurch wird der für sich stehende Monolog wieder in den Kontext des Magazins eingebunden. Die Beschreibung des zermürbenden Schaffensprozesses und die daraus resultierende Unzufriedenheit übertragen sich auf die Lesenden. Das Manifest
verbindet Reflexionen über künstlerische Darstellungstraditionen und die heutige
Konsumwelt mit der Innenschau auf die
psychoanalytische Dimension „westlicher Werte“, die sich im letzten Kapitel anschließt.
„Westliche Werte“
Das letzte Kapitel stellt ein weiteres Medium vor, das die Idee des gesamten Magazins noch einmal aufgreift und formal verdichtet. Einzelne Teile fügen sich zu einem Ganzen. Unter dem Titel „Westliche Werte“ präsentiert Sebastian Jung Collagen von Acrylgemälden. Wie schon die Zeichnungen muten auch diese Werke fast kindlich an. Mit ihren monochromen, aneinandergesetzten, klar umrissenen Farbflächen erinnern sie auf den ersten Blick an Kinderbuchillustrationen. Doch die Werke zeigen trotz ihrer strahlenden Farbigkeit
keine heile Welt. Stattdessen prägen brennende Autos, nackte Hintern und Fäkalien die Motivik; speiende Fantasiewesen, eine Zunge, die an einer Katze leckt, Pillenkonsum. Auch wenn Farben und Formen einer harmonischen Kinderwelt entnommen sind, entblößen sie in dem, was sie darstellen, tabuisierte, abjekte Momente der Psyche. Dieser Zoom-in auf die Innenwelt wird durch die Wahl des kleineren Bildausschnittes unterstrichen, der den Betrachtenden den Blick auf das große Ganze verwehrt. Die Ausschnitte sind stark narrativ, sie wirken, als seien sie Teil einer Geschichte. So ist beispielsweise, erneut in Manier einer Kindergeschichte, ein tierartiges Wesen zu erkennen, das durch seinen langen, gefleckten Hals an eine Giraffe erinnert. Es ist rosa mit hellblauen, gelben und hellrosa Flecken. Kopf und Rumpf sind angeschnitten. Seine tiefrote Zunge hängt aus dem Mund und große Blutstropfen rinnen in derselben Farbe herunter. Am unteren Rand des Bildes ist ein Stumpf angedeutet mit einer ebenso blutroten Kante – die Stelle, an der das Wesen gerade zugebissen hat.
Andere Szenen sind näher an der menschlichen Erfahrungswelt orientiert: Auf einem Bild ist der krebsrote Rumpf eines korpulenten Mannes zu erkennen. Kopf und Beine sind durch die Wahl des Bildausschnittes nicht sichtbar. Er steht im Profil mittig vor einer Landschaft, die wieder farbharmonisch gestaltet ist: leuchtend gelber Untergrund, zwei Grünstreifen am Horizont, ein babyblauer Himmel. Stilisierte Wolken in verschiedenen Farben umspielen den Mann in Vorder- und Hintergrund. In der Hand hält er einen Baseballschläger, von dem Blut tropft, Blut in derselben Farbe wie aus dem Mund des Tierwesens. Animalische und menschliche Gewalt werden vor unschuldigem Hintergrund kon-trastiert. So wird der Fortschritt der Zivilisation provozierend und fragend kommentiert.
Das Politische emotional begreifbar machen
Indem Jung den musealen Rahmen der Kunstausstellung verlässt und sein Projekt dezentral verteilt, spricht er Menschen direkt an und distanziert sich von einem hierarchischen Kunstverständnis. Der Künstler bewahrt sich davor, vorschnelle Urteile zu fällen – sowohl über das Konzept des Abendlands als auch über seine Verteidiger*innen. Vielmehr sind für ihn Fragen nach den Fundamenten menschlicher Zivilisation und der immer wieder aufplatzenden Barbarei von Bedeutung. Sebastian Jung betrachtet „Kunst immer als absolut veranlagt im gesellschaftlichen Kontext“. Doch „erst wenn sie das Politische emotional begreift“ und den Gegenstand nicht mehr rein kognitiv zu fassen versucht, entwickelt sie ihre volle Sprengkraft.
In seinen vorangegangenen Arbeiten setzte sich Jung mit den ostdeutschen Wiegen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) auseinander, mit Vorstellungen von Heimat und Geflüchteten sowie in „BEWEGUNG LIEBE“ mit den Möglichkeiten, Hass mit Liebe entgegenzutreten. Immer wieder befragt er große gesellschaftspolitische Themen erfrischend grundlegend und schafft so einen Zugang, bei dem es letztlich um das Individuum geht.
Nun diagnostiziert er, einhergehend mit dem politischen Klimawandel, auch eine kulturelle Veränderung – eine Veränderung, die zunehmend die Werte der Aufklärung infrage stellt. Doch wie in der formalen Gestaltung seiner Arbeit deutlich wird, geht es ihm nicht um eine kognitive Analyse der Verhältnisse. Stattdessen bedient er sich einer kindlichen Darstellungsweise und adaptiert das kindlich-penetrante Nachfragen nach dem „Warum?“. So gelingt es ihm, einen emotionalen Zugang zu jenen Verhältnissen zu öffnen, die als gesetzt gelten. Das fast brutale, immer genauere Hinschauen, jenes immer weitere Nachfragen nach der Konstitution des Selbst in der Gesellschaft bricht er durch humoristische Kommentare und groteske Kontrastierungen auf.